Frühsommer. Es ist die Zeit der Glühwürmchen, der warmen Nächte und der frühen Morgen. Alle Fenster stehen offen, der Duft von taunasser Wiese und Bauernjasmin weht herein. Es ist noch stockfinster, aber ich brauche kein Licht, ich weiß auch so, wie spät es ist. Ein Rotschwänzchen hat gerade zu singen begonnen, also dauert es noch eine gute Stunde bis die Sonne aufgeht – die Blaue Stunde des Morgens beginnt, die Welt gehört für Momente den Wenigen, die jetzt schon wach sind.
Dem Rotschwänzchengesang folgt bald das Gezwitscher der Rotkehlchen, dann stimmen die Amseln ein, noch später wird das Taubenpärchen in der alten Eibe zu gurren beginnen. In der letzten Viertelstunde, kurz bevor die Sonne aufgeht, werden auch die Langschläfer aufwachen, der Stieglitz, der Grünfink und die Stare.
Aber dafür ist es noch zu früh, und an diesem Morgen klingt noch etwas anderes durch die noch dunkle Luft, ein lange nicht gehörter, melancholischer Ruf. Erst glaube ich, mich verhört zu haben, aber da ist es wieder: Das charakteristische Flöten, diese eigenartige, unbeschreibliche Tonfolge, die mich sofort aufspringen und in den nachtblauen Garten eilen lässt, das Gras kalt und nass an den Beinen. Auf dem Weg zum Wäldchen taucht eine Gestalt in weiß-blauen Pyjamastreifen auf. Mein Bruder. Er hat ihn auch gehört. „Pirol!“, flüstere ich. „Wo ist er?!“, flüstert er zurück. Irgendwo oben im Wäldchen.
Die Bäume hat mein Großvater vor einem Menschenleben gepflanzt. So lang dauert es, bis Ahorn, Buchen, Föhren, Erlen die stattliche Höhe erreicht haben, die der goldene Vogel als sein Reich akzeptiert.