Zuerst eine kleine Geschichte, um einen der vielen Wege zu veranschaulichen, die zum Licht führen können: Es handelte sich um einen Gummibaum, und sein Alter war ungewiss. Fest stand, dass es beträchtlich war. Kein Mensch konnte sich daran zurückerinnern, welcher Ahn der Familie X diese Pflanze einst als Pflänzchen ins Haus getragen hatte. Jedenfalls war das Gewächs über Dekaden zu einer monströsen Größe herangewachsen, sodass es das gesamte Wohnzimmer mit matt glänzendem Blattgrün ausfüllte. In einer mittlerweile nur noch kriechend zu erreichenden Ecke nahmen unter schattigem Dickicht mehrere Gummibaumstämme ihren Ursprung. Der dazugehörige Topf schien viel zu klein, doch offenbar war der Gummibaum genügsam, und an ein Umtopfen war nicht mehr zu denken.
Im Laufe der Jahre hatte man die sich ständig verzweigenden Äste gestützt und entlang der Wände und unter der Decke angebunden. In Schlingen und Schleifen wucherte der Gigant, und er verwandelte das, was einst ein Wohnzimmer gewesen war, zu einer exotisch anmutenden Dschungellaube. Fast erwartete der Gast Papageiengeschwätz und den Schrei des Jaguars aus ihren Tiefen. Über viele Jahre war man stolz auf diese offensichtliche Demonstration zimmergärtnerischen Talents, und alle paar Monate rückte das Familienoberhaupt mit Leiter, Kübel und Wischtuch an, um über mehrere Stunden hinweg jedes einzelne Gummibaumblatt vom Staub zu befreien und blank zu wischen.
Doch irgendwann kam der Moment, da auch der Essplatz unter der Vegetation zu verschwinden drohte, und als sich die Dame des Hauses gezwungen sah, die Sonntagsschnitzel in gebückter Haltung zu servieren, war ein kathartischer Moment erreicht. „Es ist genug!“ sprach sie, und holte zum Befreiungsschlag aus. Erst fielen ein paar Stämme. Dann noch ein paar. Dann verfiel sie in einen Rausch und erlegte den Gummibaum vollends mit Scheren, Sägen, Zangen. Nachdem das Zimmer freigelegt und frisch ausgemalt war, schritt die Familie aufrecht und befreit durch die wiedergewonnene Räumlichkeit, man beglückwünschte einander und stellte sich die Frage, warum man eigentlich so lange mit der Beseitigung des Ungetüms gewartet hatte.
Weil wir alle unsere Pflanzen lieben, natürlich, und dabei oftmals mit Blindheit geschlagen sind. Weil wir auch hässliche, überalterte Kreaturen hingebungsvoll pflegen. Und weil manche von ihnen die Tendenz entwickeln, uns nachgerade tyrannisch zu regieren. Das gilt für den Topfgarten drinnen genau so wie für die großen Pflanzen draußen. Und deshalb muss man gelegentlich innehalten, sorgfältig abwägen und im Fall des Falles die Kraft aufbringen und sich von manchen Exemplaren trennen. Wenn Zimmerpflanzen nur mehr kränkeln und auch nach allen Regeln der Verarztung weiterkrüppeln – fort mit ihnen. Wenn die große Komposition draußen durch einzelne Ausreißer gestört wird – ausgraben und versetzen, oder fällen.

Oder alle paar Jahre ordentlich zurückstutzen. Die Nachbarin setzt beispielsweise gelegentlich die Astzange in anfangs erschreckend radikaler Manier an, wenn der prachtvolle Perückenstrauch das Grundstück zu erobern droht. Es wohnt diesem Akt zwar ein Schmerz inne, denn auf den Anblick der flauschig-rosa Blütenstände muss im Folgejahr verzichtet werden, doch in der Gartenhütte gleich daneben wird es vorübergehend wieder hell, und sie kann auch wieder aufrechten Schrittes betreten werden. „Ganz sicher“, schrieb die britische Schriftstellerin und Gärtnerin Vita Sackville-West in einer ihrer berühmten Gartenkolumnen, „beruht das erfolgreiche Gärtnern zum großen Teil darauf, dass wir jede Pflanze, die uns nicht gefällt, rücksichtslos ausreißen. Mag es auch herzzerbrechend sein, einen Baum, den wir vor Jahren setzten, zu fällen – es ist doch das einzig Richtige, wenn er uns im Weg ist und anderen die Sonne wegnimmt.“ So weit bin ich noch nicht. Noch gefallen sie mir alle, meine geliebten Sträucher, Bäume und auch die unverhofft aufgetauchten Wildlinge dazwischen.
Was die Krewegerln anlangt, die ewigen Kümmerer, fand die Herrin der Gärten von Sissinghurst Castle ebenfalls deutliche Worte: „Weg mit ihnen! Schwächlinge müssen geopfert werden; so wollen es die strengen Gesetze der Natur.“
Bis mein vor drei Jahren gepflanzter Perückenstrauch rückschnittreif ist, wird es noch eine Weile dauern. Zuckerwatte heißt die Sorte, und heuer wird der Großstrauch erstmals diesem Namen gerecht. Zwar nur knapp meterhoch, doch flauschig hübsch und zuckerlrosa steht er da, beschattet von einer Gruppe riesiger Ahornbäume. Doch in Zeiten wie diesen soll mir jeder schattenwerfende Baum nur allzu recht sein.

LEXIKON
Gummibaum. Der Ficus elastica ist eine der Zimmerpflanzen, die insbesondere in den 1970er-Jahren beliebt waren. Vielleicht auch, weil er mit wenig Licht auskommt. In freier Wildbahn wächst er schnell zu einer Höhe von 40 und mehr Metern heran.
Perückenstrauch. Der Europäische Perückenstrauch Cotinus coggygria ist mit den flauschigen Blütenständen in Rosa, Dunkelrot oder Cremegelb eine malerische Gartenpersönlichkeit. Viel Sonne und eher trockene Erde behagen ihm. Wo er Platz hat, muss er gar nicht geschnitten werden.
Buch. Sollten Sie Vita Sackville-West (1892 – 1962) noch nicht kennen, schließen Sie Bekanntschaft. Die ideale Einstiegsdroge heißt „Aus meinem Garten. Einfälle und Ratschläge“ und ist bei Ullstein erschienen.