Keine drei Kilometer von hier thront auf einer Anhöhe ein romanisches Kirchlein. Seit gut 800 Jahren blickt es auf Felder, Wälder und uns Sterbliche herab. Im Frühling blühen Kastanienbäume in seinem Schatten, im Herbst raschelt das Laub knöcheltief auf den Wegen. Eine Steinmauer, vielleicht so alt wie der Bau selbst, fasst Kirche und Gottesacker zu einem stillen Ensemble – und in dem trieben wir uns heimlich gern herum. Denn dort konnte man an taufeuchten Morgen zwischen den Farnen Feuersalamander fangen, die Moosblüte in den Mauerritzen studieren und zur rechten Zeit die frischglänzenden Kastanien aus ihren stacheligen Hüllen lösen. Vor allem aber war dort eine Mutprobe zu bestehen, die eine Art Aufnahmeprüfung in die Kinderbande darstellte.
An einer Flanke des alten Gemäuers führte ein schmales und nicht nur für jugendliche Beine steiles Trepplein hinunter in einen Karner, wo bis unter das Deckengewölbe Totenköpfe und Gebeine in wirrem Durcheinander lagen. Heute kann man nur noch von außen durch ein versperrtes Gittertor in das Beinhaus blicken, doch damals war das Reich der Toten noch frei zugänglich.
Wenn man sich getraute, hielt man sich für ein paar schauerliche Momente dort unten auf. Finster, kalt und unheimlich war es da, und unweigerlich gedachte man der Toten, stellte sich vor, wie die Menschen, in deren nun leere Augenhöhlen man blickte, wohl einmal ausgesehen, was sie erlebt hatten und woran sie gestorben waren. Es war ein Ausflug in eine andere Welt, den keiner von uns je vergaß.

Die Feuersalamander gibt es zum Glück immer noch, und eigentlich sollte ich eine Meldung darüber abgeben, denn Universität für Bodenkultur und die Wiener Friedhöfe GmbH. betreiben mit „Biodiversität am Friedhof“ seit 2021 ein interessantes Forschungs- und Citizen Science-Projekt, das die Gottesäcker als Rückzugsräume für viele bedrohte Tier- und Pflanzenarten dokumentiert.
Wenn ich heute einen Feldhamster sehen will, muss ich wohl auf den Zentralfriedhof fahren, denn hier gibt es kaum noch welche. Wenn wir seinerzeit über die Feldwege nach Sankt Lorenzen radelten, begegneten wir ihnen immer, und nicht selten stellten sich die kleinen Kerle auf die Hinterbeinchen, zeigten uns den schwarzen Bauch, die weißen Pfoten und pfauchten uns an. Hat es nicht etwas Zynisches, und sagt es nicht einiges über unseren Umgang mit der belebten Natur, wenn ausgerechnet Friedhöfe zu den letzten Refugien für bedrohte Pflanzen und Tiere werden?
Unlängst stand eine andere Geschichte nachzulesen, und zwar die des deutschen Urlaubers, der vor sechs Jahrzehnten aus dem Karner unter dem Wiener Stephansdom einen Totenkopf entwendet hatte und nun anonym wieder zurückschickte.
Das schlechte Gewissen drückte ihn, und dass er den Schädel wohlverpackt am Abend seines Lebens an den Ort der Bestimmung zurücksandte, ehrt ihn.
Zwei Knaben jedoch brauchten für das Gesellenstück vor Zeiten bei weitem nicht so lang.
Untertags war es ein Einfaches gewesen, zum Spaß am eigenen Mut ein Denkgehäuse aus besagtem Karner zu entwenden und damit heimzuradeln. Doch dann kamen der Abend und die Nacht, und die Geister der Finsternis wehten in die Dachkammer, in der die beiden längst hätten schlafen sollen. Aus dem Totenkopf blickte sie stumm die Ewigkeit an, und wenn man erst acht, neun Jahre alt ist, können arg mulmige Gefühle die Kinderseele beschleichen. Der Karner war weit, der nächstgelegene Friedhof nah, und dorthin brachten sie ihn noch in derselben Nacht. Sie stellten ihn auf ein steinernes Grab.
Irgend jemand muss ihn gefunden haben, und in diesem Moment wäre ich für mein Leben gern versteckt wie ein Feldhamster oder ein scheues Füchslein hinter einem der Grabsteine als Beobachterin dabei gewesen.
